Die Einreise in die Türkei entspricht allen Klischeevorstellungen. Motorrad abstellen, ins Verwaltungsgebäude. Bei der Polizei Pass stempeln lassen anschließend Fahrzeugdaten eintragen lassen. Dann: „Customs control outside“ Aha!
„Outside“ ist aber kein Mensch, also weiter zur Schranke mit der abschließenden Kontrolle. „Wo Du customs Stamp? – zurück!“ Also wieder hoch, zurück zu dem Fahrzeugfritzen. „Outside, outside, customs!“ Die Rückfrage eines freundlichen Deutsch-Türken ergab dann, dass vom Zoll grad alle beim Mittagessen sind und schon einer kommen wird, wenn sie fertig sind, man solle draußen warten. Also mache auch ich erst mal bei der Zollabfertigung Brotzeit. Mit vollem Mund halte ich dem herankommenden Beamten meinen Pass hin. Der drückt den dritten Stempel hinein und über eine nagelneue Strasse rolle ich bergab in Richtung Istanbul.

Da ist es wieder, was ich in Erinnerung habe, lachende, freundlich grüßende Menschen. Zwischenzeitlich gibt es eine Autobahn, von Edirne kommend, an Istanbul vorbei, hinein nach Asien. Ich möchte die alte Strasse am Meer nehmen, fahre in Kirklareli daher auf die D20 und sehe in Silivri das erste Mal auf dieser Reise das Mittelmeer. Die D100 ist 60 km vor Istanbul ebenfalls autobahnähnlich ausgebaut. Im alten Byzanz wahr ich schon so oft, dass ich keine Stadtbesichtigung plane. Hagia Sofia, Großer Bazar, Topkapi-Palast, all das kenne ich von früheren Reisen. Ganz in der Nähe von Silivri folge ich daher einem Schild „Camping“ und schreibe meinen Tagebucheintrag am Marmarameer.

Heute geht es über den Bosporus hinein nach Asien. Vor mir liegt das Nadelöhr Istanbul. Mit knapp 12,6 Mio. Einwohnern steht Istanbul auf Platz 3 der bevölkerungsreichsten Städten der Welt. Hunderttausende weiterer Menschen wälzen sich täglich in sie hinein oder, so wie ich, durch sie hindurch.

Ende der 80er Jahre bin ich mit meiner alten R 80 G/S diese Strasse gefahren. Seither habe ich Bilder von hoffnungslos überladenen, rußspeienden Lkw’s vor mir, von tausenden Minibussen, die am Strassenrand Wartende auflesen und vollkommen unangekündigt nach links oder rechts ausscheren, Bilder von Ziegen, die am Seitenstreifen grasen und direkt darüber ein soeben vom Atatürk Airport startender Jumbojet. Dazwischen ich Wurm mit meiner vollgepackten Maschine, schwitzend bei 30 Grad und nur damit beschäftigt, die Manöver der Millionen von Autofahrern vorauszuahnen. Einiges hat sich geändert. In der Mitte befindet sich eine abgeteilte Fahrbahn für Metro-Busse. Nicht nur einen Anhänger ziehen diese hinter sich her. Ganze „Bus-Züge“ sind unterwegs, um die Menschenmassen auf diese Weise ins Zentrum zu befördern. Die Minibusse haben nun ebenfalls eine eigene Fahrspur auf dem abgeteilten Seitenstreifen. Die Ziegen gibt’s nicht mehr. Wenigstens die Staus, die durch die in 2., 3. oder 4. Reihe haltenden Gefährte verursacht werden, sind nun vorbei. Dafür gibt es aber genug andere. Praktisch bei jeder Auffahrt geht erst mal nichts mehr. Ich fahre rechts auf dem schmalen Standstreifen vorbei, so weit es geht und dann im Slalom zwischen den Autos hindurch. Eine durchaus angepasst Fahrweise. 

Wenigstens ein paar Aufnahmen möchte ich machen und folge aus der Erinnerung den Wegweisern Topkapi und Aksaray. Tatsächlich stelle ich irgendwann vor der neuen Galatabrücke, unterhalb des Basars, die BMW ab und wandere zu Fuß durch die Gassen auf der Suche nach ein paar typischen Motiven.

Über die Galatabrücke hinweg, der D100 folgend geht es hinein nach Asien. Ismit, als nächst größere Stadt sollte angeschrieben sein, im Zweifel Ankara. Doch Nichts. Nicht ein Wegweiser führt auf die alte Hauptstrasse. Buchstäblich alle Wege führen hier auf die neue Autobahn. Diese ist aber mautpflichtig und weist an Brücken eine besondere Gemeinheit auf. Man muss vorher(!) eine Magnetkarte erstehen, die einem die Schranken zu den großen Brücken über die Meerenge zwischen Schwarzem und Mittelmeer öffnet. In diesem Verkehrschaos nahezu unmöglich, ist man doch schon froh, überhaupt aus dieser Stadt in der richtigen Richtung hinauszufahren. Prompt stehe auch ich an einer dieser Schranken, habe aber Glück, denn meine ist offen. Es piepst nur, als ich ohne zu bezahlen darüber fahre. Ein italienischer Biker neben mir hat weniger Glück. Seine Schranke ist zu und bleibt es auch. Weder hilft da sein lautes Fluchen noch das Hupen der hinter ihm stehenden Autos. Wieder ist es ein deutsch sprechender Türke, der mir den richtigen Weg auf die Hauptstrasse weist. Irgendwann wird der Verkehr fließender, die Lkw’s weniger und die Luft klarer. 100 km Stadtgebiet liegen hinter mir – Anatolien, ich komme!

In Arifiye verlasse ich die D100 und biege ab auf die D650 nach Bilecik. Vor einer geschlossenen Bahnschranke lädt ein gemütlicher Teegarten zum Verweilen ein. Mit Landkarte bewaffnet und den Staub von der Brille putzend setze ich mich. Als ich den Tee zahlen möchte, schüttelt der Wirt lachend den Kopf und winkt ab. Gerade will ich losfahren, da ruft mich ein Gast zu sich. Ein älterer Herr, der in den 60er Jahren bei MAN in Nürnberg gearbeitet hat. „Setz Dich, trink einen Tee!“ „Danke ich habe gerade einen Tee getrunken.“ „Dann trinkst Du eben noch einen Tee!“ sind seine Worte. Warum nicht? Ich habe Zeit und setze mich. Woher ich komme, wohin ich möchte, was meine Route sei, wie viele Tage ich bereits unterwegs bin. All das ist von Interesse. Die herumsitzenden Gäste verfolgen es mit Spannung. Der freundliche Herr übersetz jede Antwort von mir und ein Raunen geht durch die Runde, als man hört, dass ich aus „Almanie“ komme und noch weiter möchte, bis nach „Surie“. Auch diesen Tee muss ich nicht zahlen und werde verabschiedet mit einem herzlichen „Güle Güle!“ – Gute Reise und auf Wiedersehen.

Endlich herunter von der Hauptverbindungsstrecke Istanbul – Ankara meinte ich, das gröbste an Verkehr hinter mir zu haben. Nein, es kommt genauso dick. Eine über 120 km lange Straßenbaustelle erwartet mich. Wie mir auf der weiteren Reise klar wird, werden in der Türkei aktuell alle wesentlichen Verbindungsstrecken von 2 auf 4 Spuren ausgebaut – und zwar gleichzeitig. Da es natürlich im gesamten Land nicht die für dieses Projekt erforderliche Anzahl an Baumaschinen gibt, befindet man sich praktisch unentwegt auf Schotter, in Staubwolken, fährt an Staus vorbei, schwitzt, flucht und denkt sich, „was mache ich hier eigentlich?!“ Scheinbar lautet der Auftrag, eine schlüsselfertige Autobahn zu liefern, sogar die Tankstellen werden parallel errichtet.

Vorbei ist der Spuk endgültig hinter Bozüyük. Im Kreisverkehr fahren die Lkw’s und Pickups eine Ausfahrt weiter, als ich und vor mir habe ich nun das, was ich suche: Endlose Strassen über weite Ebenen und sanfte Hügel, kaum Verkehr, eine karge Landschaft und in der Ferne die Bergkuppen Zentralanatoliens. Unmerklich steigt die Strasse an. Die Karte verrät, dass die Gipfel um mich herum eine Höhe von über 2.000 Metern erreichen. Vorbei an kleinen Seen, an deren Rand verschlafene Ortschaften liegen geht es nach Afyon. Afyon bedeutet „Opium“. Nahezu 80.000 Menschen sind dort heute legal mit dem Anbau und der Verarbeitung von Mohn beschäftigt. Hauptabnehmer ist die Pharmazeutische Industrie. Mich zieht aber etwas anderes dorthin. Am Rand der oberen Altstadt befindet sich die „Ulu Cami“, ein seltenes Beispiel einer seldschuckischen Holzmoschee aus dem 13. Jahrhundert, die sich hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt. 40 eng stehende Holzsäulen mit geschnitzten Stalaktitenkapitellen, allesamt im Original erhalten, tragen eine dunkle Holzbalkendecke.

Die BMW parkt derweil auf dem Bürgersteig vor dem Hotel, das ich mir heute gönne. Der Besitzer grinst mich breit an und meint zu mir mit einer weit ausholenden Geste: „Alles aus Deutsche Mark“. Auch er hat jahrelang in Deutschland gearbeitet und jeden Pfennig gespart, um sich hier dieses Hotel kaufen zu können.

Am nächsten Tag wieder Anatolien pur. Kein Verkehr, karge Hügel, verdorrte Steppe um mich herum. An ein paar Stellen hat man Kiefern angepflanzt. Ob die dem Wind standhalten? Der Wind ist der Hammer. Eher Sturm. Mal von der Seite, mal von vorne. Scheinbar nie von hinten. Bei einem Fotostop winken mir zwei Lkw-Fahrer von der anderen Straßenseite aus ihren parkenden Lastern zu. „Cay!“ rufen sie laut. Mal sehen, was daraus wird, denke ich mir und fahre mit der GS auf die andere Seite. Einer drückt mir ein Glas mit dem köstlichen süßen Tee in die Hand, an dem ich mit meinen trockenen Lippen zufrieden nippe. Die Unterhaltung läuft prächtig. Die beiden sprechen fließend türkisch und ich höre fließend zu. Ab und zu nicke ich mal und, als ich zum Abschied Allahaismaladik – auf Wiedersehen - sage, sind sie ganz euphorisch. „Güle, Güle!!“ erhalte ich zur Antwort und weiter geht es nach Osten.

Die D330 und weiter die D750 sind landschaftlich ein Traum. Erst Hochgebirge mit bis zu 3.000 Metern hohen Gipfeln – liegt da Schnee, frage ich mich – dann hat man den Eindruck, man ist an der Côte d’azur. Eine perfekte Strasse windet sich über kleine Pässe durch Pinienwälder hinunter ans Meer. Ich halte an einer Lokantasi und lasse mir ein hervorragend gewürztes Kebab, einen Hackfleischspieß, mit Salat schmecken. Als einziger Gast werden aber wohl leider die gesamten Kosten des Tages auf mich umgelegt und ich bin sauer, dass ich nicht vorher nach dem Preis gefragt habe. Immer der gleiche Fehler.

Verhältnismäßig nahe an der Syrischen Grenze will ich heute möglichst weit kommen, um morgen entspannt in einer Werkstatt meinen Reifen wechseln zu lassen und ausreichend Zeit für die Grenzprozedur zu haben. Der ursprüngliche Plan, in der Bucht von Iskenderun irgendwo am Strand einen Campingplatz zu finden, erweist sich aber als vollkommen daneben und erscheint mir geradezu lächerlich, als ich sehe, was sich dort in der Bucht tatsächlich befindet. Über kleinste Strassen fahre ich am Meer entlang und rieche es als erstes – Öl. Dann ist es nicht mehr zu übersehen. Vorbei an Beladestationen für Megatanker und haushohen Kohlebergen fahre ich in die Dämmerung. Alles ist schwarz, die Strasse, die Autos, die Blätter der Pflanzen am Wegesrand – so muss der Vorhof zur Hölle aussehen. Die untergehende Sonne verleiht dem ganzen eine zusätzliche Dramatik. Nur weg hier, endlich einen Platz zum Schlafen finden.

Nach 700 Kilometern über kurvige Landstrassen finde ich in Dörtyol ein Hotel. Ein Taxifahrer zeigt es mir. Es ist wohl kein normales Hotel, eher eine Herberge für – ja für wen? Innen sieht es eher aus, wie eine Schule. Die Zimmer sind sauber und verfügen über eigene Bäder. Auch haben sie Namen, die klingen, wie aus 1001 Nacht. Das Mobiliar ist bescheiden, lediglich zwei Betten befinden sich im Zimmer und ein Schrank. Gut, dass ich meinen Klappstuhl dabei habe, auf ihm sitzend betreibe ich Kartenstudium für morgen und trinke ein wohl verdientes Efes. Nachts um drei weckt mich das Klingeln des Telefons. Auf dem Gang höre ich Schritte. Was ist denn jetzt los? Im Halbschlaf drehe ich mich um und schlafe weiter. Am kommenden Morgen dämmert es mir aber langsam. Offensichtlich bin ich in einer Koranschule gelandet. Angesichts dessen ist meine Hinterlassenschaft von zwei leeren Bierdosen im Zimmer natürlich von besonderer Brisanz.

Keine 100 km sind es mehr bis zur syrischen Grenze. Für mich bedeutet das, heute endlich den alten TKC 80 gegen den mitgebrachten Heidenau K60 zu tauschen. Lange hatte ich mit mir gehadert, einen Reifen mitzuschleppen. Angesichts einer Fahrstrecke von über 8.000 km und einem schon betagten Conti auf der Felge, erschien es mir dann aber doch sinnvoll. Die perfekt eingerichtet Reifenwerkstatt in Iskenderun schickt mich weiter zu einer kleinen Motorradbude. Dort wird dann alt hergebracht mit Montierhebeln das gute Stück in die Tiefbettfelge gepresst. Einen Reifendruck-Prüfer gibt es nicht. Wenigstens da kann mir ersterer Reifenhändler helfen. Die vorhandenen 4,5 bar reduziere ich um knapp die Hälfte und rolle frisch besohlt der syrischen Grenze entgegen...  >>weiter lesen